Die Familie Jesu
Predigt am 10.09.2017

 
 

Liebe Gemeinde!

1. Eine mir unverständliche Verhaltensweise Jesu

In ganz vielen Geschichten und Begegnungen bewundere ich Jesus.
Mutig und toll finde ich sein Auftreten und Eintreten, z.B. für die Ehebrecherin, die gesteinigt werden soll und Jesus tritt in die Runde und sagt: Wer von Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
Auch habe ich kapiert und für mich angenommen, was einflussreiche Theologen bei der Synode 451 in Chalcedon beschlossen haben:
Jesus ist wahrer Mensch und wahrer Gott.
Er ist beides – er ist der Sohn Gottes und göttlich.
Und er kommt als Sohn Gottes ganz unten in der Welt an und ist menschlich, perfekt menschlich – so wie Gott Vater will, dass wir Menschen miteinander umgehen.
Dabei ist die Richtschnur für unseren menschlichen Umgang das Doppelgebot der Liebe und der Schwerpunkt in unserer Lebensprioritätensetzung liegt auf dem Erreichen des Reiches Gottes.
All das habe ich so verstanden und kann es für mich annehmen.
Freilich, ähnlich wie bei der Predigt letzte Woche über Martin Luthers Lebensleistungen und Lebensfehler, gibt es auch in den Überlieferungen von der Lebensgeschichte Jesu Ereignisse und Begegnungen, bei denen ich schlucken muss, bei denen ich sagen muss:
„Nein, dieses Verhalten finde ich nicht o.k. Da hätte ich mir ein anderes Verhalten von Jesus erwartet und gewünscht.“
Natürlich klingt es vermessen, wenn aus dem Mund eines evangelischen Diasporapfarrers und kleinen Christenmenschen kritische Anfragen an den Sohn Gottes, an unseren Meister und religiösem Vorbild Jesus gestellt werden.
Nun möchte ich die Begegnung mitteilen, bei der ich über Jesu Verhalten schlucken muss:

Jesu wahre Verwandte

31 Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen.
32 Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir.
33 Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder?
34 Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!
35 Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.

2. Warum für mich unverständlich

Halleluja – so geht man doch nicht mit seiner Mutter um.
Und auch nicht mit seinen Brüdern und Schwestern.
Das, was hier geschieht, ist eine öffentliche Demütigung der eigenen Familie.
Hat Jesus das wichtige 4. Gebot vergessen: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden.“
Martin Luther schreibt zu dieser Bibelstelle:
Und nun weist er seine Mutter so unfreundlich ab, und schlägt sie über die Schnauze, so dass ich halte: Es ist kein unfreundlicheres und härteres Wort aus seinem Munde gegangen.“
Ich versuche die Geschichte mal zu übertragen:
Unser Landesbioschof Heinrich Bedford Strohm hält einen großen und wichtigen Gottesdienst – sagen wir, in der Bischofskirche München St. Matthäus am Sendlinger Tor. Auch das Fernsehen ist da und einige prominente und einige wissbegierige Menschen. Der Landesbischof hat gut zu tun und ist in seinem Element.
Nun aber kommen seine Mutter und seine vier Geschwister und lassen ausrichten, dass sie gerade hier sind und gerne mit ihm sprechen würden.
Ich kann mir gut vorstellen, dass er sagen wird: Gerade kann ich nicht. Gerade bin ich gebunden. Aber in 30 Minuten bin ich fertig hier und dann können wir uns gerne zusammensetzen und besprechen, was zu besprechen ist.
Eine solche Reaktion scheint mir doch die natürlich und respektvolle Haltung eines verantwortlichen Menschen, der Liebe zu seiner Familie in seinem Herzen trägt.

3. Hinter- Gründiges

Gut, ich will umstellen und möglichst nüchtern schauen, was war.
Jesus ist in seinem Element.
Viel Volk sitzt um ihn – und er kann reden, mitteilen, Horizonte öffnen und hat ein großes, ihm zugeneigtes Publikum.
Und dann kommen seine Mutter und seine Brüder und Schwestern.
Halt stop – sein Vater ist nicht dabei!
Ist sein Vater schon gestorben?
Oder hat er zu viel Arbeit?
Oder hat er kein Interesse an einer Begegnung mit Jesus, seinem ältesten Sohn, der irgendwie doch nicht sein Sohn ist.
Auf jeden Fall liegt hier eine wichtige Information vor: Es stehen draußen seine Mutter – ohne Vater -und seine Brüder und Schwestern.
Jesus ist also in einer großen oder größeren Familie aufgewachsen.
Und nach der Jungfrauengeburt von Jesus gibt es noch ganz normale menschliche Geschwister in seiner Familie.
Bemerkenswert auch, dass die Mädchen, die Schwestern, die im AT so oft einfach nicht gezählt haben und nicht aufgezählt wurden, hier gleichrangig benannt werden.
Und zu den Hintergründen gehört auch, dass sich Maria, die Mutter von Jesus und seine Geschwister von Nazareth nach Kapernaum aufgemacht haben; gut 40 Kilometer zu Fuß durch Hitze und Sand und Staub. Wohl ein Marsch von zwei Tagen mit einer ungeklärten Übernachtung – und entsprechend wieder ein Rückweg von zwei Tagen.
Also muss doch etwas Gewichtiges angelegen haben, dass sich Mutter und Geschwister auf den weiten und mühsamen Weg gemacht haben.

Spekulationen schießen in den Kopf:

  • Vielleicht wollen sie die Nachricht überbringen, dass der Vater verstorben ist?
  • Vielleicht wollen sie Jesus als den Ältesten nach Hause holen und in die familiäre Verantwortung einbinden?
  • Vielleicht wollen sie ihm ins Gewissen reden, dass er die Pharisäer und Schriftgelehrten nicht so abfertigen soll?
  • Vielleicht brauchen sie seine Wunder- und Heilkraft für sich selbst?
  • Vielleicht ist Jesus für sie „verrückt, nicht normal“ (Mk. 3,21) und sie fürchten um den Ruf der Familie.
  • Vielleicht vielleicht vielleicht  …

 4. Plädoyer für das Verhalten von Jesus

Aber könnte es nicht auch gute Gründe geben für das Verhalten von Jesus? Wir bitten den Anwalt von Jesus, das Plädoyer zu halten!
Gut, man muss wissen, dass Jesus schon immer anders war;
 An die Geburtsgeschichte von Betlehem und an die geistliche Befruchtung können wir zuerst denken;
Denken wir dann auch an den 12-jährigen Jesus im Tempel:
Wisst ihr nicht, dass ich noch einen anderen Vater habe. Nämlich Gott? Habt ihr vergessen, dass ich nicht nur euer Sohn, sondern auch der Sohn Gottes bin“?
Seiner Familie fällt es schwer, das zu verstehen.
Seine Familie möchte Jesus für sich behalten.
Seine Familie begreift nicht und kann nicht begreifen, dass Jesus dabei ist, eine neue Familie zu gründen.
Nicht eine Familie aus Fleisch und Blut, sondern aus dem Geist und der Liebe Gottes.
Jesus gründet die Familie Gottes!
Die Familienzusammenkunft mit seiner Mutter und seinen Geschwistern scheint gescheitert - in Wirklichkeit aber wird eine neue, größere, belastbare und nachhaltigere Familie gerade durch Jesus gegründet – die Familie Gottes, die Kirche Jesu Christi.
Und am Schluss macht es Jesus auch mit seiner Mutter gut und recht.
Wir sehen den sterbenden Jesus am Kreuz. Eines seiner letzten Worte gilt seiner Mutter. Er nimmt sie auf in seine neue Familie. Zu seinem Jünger sagt er: „Siehe, deine Mutter.“ Und zu ihr sagt er “Siehe, dein Sohn“.

5. Die Familie Gottes, um Jesu willen

Auch dieser unser Gottesdienst hier ist nichts anderes, nichts weniger als ein Familientreffen Jesu. Wir sind hier und jetzt zusammen, um Gott zu ehren, um gemeinsame Lieder für Gott und unseren Glauben zu singen, zu beten, das Wort Gottes zu hören. Jesus ist in gewisser, geistlicher Weise auch unser Bruder - wir sind sein Bruder, seine Schwester.
Dieser Gottesdienst wird in 20 Minuten zu Ende sein.
Dann werden wir wieder auseinandergehen, so wie es bei jedem Familientreffen üblich ist.
Ein jeder von uns wird wieder seiner Beschäftigung und seinem Leben nachgehen – aber mit dem Wissen, dass wir zu einer großen Familie gehören.
Mit dem Wissen, dass wir weltweit viele Brüder und Schwestern haben.
Und mit dem Wissen, dass wir einen liebevollen Vater haben, der nicht nur auf diese Welt begrenzt ist. Familie – familiaris – lateinisch – zusammengehörig – und wenn wir zusammen gehörend das Vater Unser beten und uns gegenseitig die Hände reichen, dann können wir spüren und erfahren, dass wir nicht alleine sind, sondern um Gottes Willen zusammen gehören.

Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne.

Amen

Thomas Plesch am 07.09.17