Predigt an Silvester
Predigt am 31.12.2015

 
 
Silvester 2015 in Tittling

Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Röm 15,7 (L)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. AMEN
Liebe Gemeinde !
Am Ende des Jahres blicken wir zurück und in der letzten Predigt des Jahres wird dies mit der anspruchsvollen und auffordernden Losung des Jahres 2015 geschehen.
Und wie oft haben wir uns nicht angenommen – im kleinen wie im großen Fenster der Gesellschaft. In diesem Gottesdienst kommen wir – wie auch viele andere Jahresrückblicke - an der Stadt der Liebe, an Paris und an dem, was dieses Jahr alles in Paris sich ereignet hat, nicht vorbei.
13. November 2015 – Anschläge in Paris
Die Angriffsserie am Freitagabend richtete sich gegen die Zuschauer eines Fußballspiels im Stade de France, gegen die Besucher eines Rockkonzerts sowie gegen die Gäste zahlreicher Bars, Cafés und Restaurants. Es handelte sich um mehrere Schusswaffenattentate, ein Massaker mit Geiselnahme sowie sechs Explosionen, die von Selbstmordattentätern mit Sprengstoffwesten ausgelöst wurden.
Nach Angaben der französischen Regierung wurden 130 Menschen getötet und 352 verletzt, davon 97 schwer. Außerdem starben sieben der Attentäter in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren Attacken. Zu den Anschlägen bekannte sich die terroristische VereinigungIslamischer Staat“ (IS).
Schon direkt nach den Anschlägen in Paris haben Menschen überall auf der Welt für die Opfer und ihre Angehörigen gebetet. Hillary Clinton twitterte: “Die Nachrichten aus Paris sind grauenhaft. Ich bete für die Stadt und die Familien der Opfer”.
Die Rockgruppe Pink schrieb: “Unsere Gebete gelten heute Nacht den Menschen in Paris. Wir beten für eure Sicherheit und dass ihr getröstet werdet.“
Thomas De Maiziere sagte einem Reporter gegenüber: „Wer mag, kann beten. Ich tue es.“
Und die Twittergruppe “#pray for Paris“ erreichte in kürzester Zeit unzählige Menschen auf der ganzen Welt. Wer in diesen Tagen betet, bringt sein Erschrecken, seine Fassungslosigkeit zum Ausdruck. Wir teilen das alles mit unseren Mitmenschen.
Aber eben nicht nur mit ihnen. Wir teilen es auch mit Gott. Wir bringen unsere Klage, unser Erschrecken vor Gott, in dem Vertrauen, dass Gott das alles hört, dass es nicht verpufft. In der Hoffnung, dass der Hass nicht auch von uns selbst Macht ergreift. Dass die Angst uns nicht überschwemmt.
Dass wir all dem etwas entgegensetzen können.
Nicht alle halten den weltweiten Gebetsaufruf für eine gute Idee. Bald tauchte im Internet die handgeschriebene Nachricht eines der Zeichner von Charlie Hebdo auf, der Satirezeitschrift, die selbst in diesem Jahr Ziel eines Anschlags gewesen war.
Der Anschlag auf Charlie Hebdo war ein islamistisch motivierter Terroranschlag, der am 7. Januar 2015 auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris verübt wurde. Zwei maskierte Täter, die sich später zu Al-Qaida im Jemen bekannten, drangen in die Redaktionsräume der Zeitschrift ein, töteten elf Personen, verletzten mehrere Anwesende und brachten auf ihrer Flucht einen weiteren Polizisten um. „Je suis Charlie“ war dann ein europaweiter Ruf der Solidarität.
„Freunde in der ganzen Welt!“ – heißt es bei Charlie Hebdo – „Danke für #pray for Paris, aber wir brauchen nicht mehr Religion, sondern unser Glaube richtet sich auf Musik! Küsse! Leben! Champagner! Freude!“
Als wäre das ein Gegensatz: das Beten, das Gespräch mit Gott, das Innehalten auf der einen Seite und die Musik, die Küsse, die Lebensfreude auf der anderen Seite,  - dann müsste man dem Zeichner rechtgeben.
„Wir brauchen nicht mehr Religion“ – im Aufruf des Charlie-Hebdo-Zeichners schwingt noch mehr mit. Eine Skepsis, vielleicht auch Ablehnung gegenüber der Religion, ja jedweder Art des Glaubens. Beten bringt nichts. Religion ist nutzlos. Vielleicht gefährlich. Quelle von Hass und Gewalt. Sie nimmt uns das Leben, anstatt es uns zu schenken.
Natürlich kann man den Glauben pervertieren! Man kann Gebete missbrauchen, man kann alles, was Menschen heilig ist, missbrauchen. Doch das ist eben ein Missbrauch!
Eine Verkehrung, die nichts anderes ist als Gotteslästerung. Glücklicherweise erleben wir in unzähligen Biographien das Gegenteil: dass der Glaube das Schöne im Menschen hervorbringt, - ich erinnere an unsere Fahrt ins Elsass und auf der Spuren von Albert Schweitzer – dass der Glaube dem Menschen zur Menschlichkeit verhilft, ihn davon abhält, das Böse zu tun.
Dass der Glaube, das Angenommen sein von Gott dem Menschen hilft, das Leben zu lieben und das Leben aller zu achten.
Die vielleicht größte Kraft entfaltet der Glaube da, wo ein Mensch aus Lähmung und Verzweiflung zurück findet ins Leben - und das mag ja auch mit einer ganzen Stadt geschehen. Pray for Paris
Das Gebetbuch der Gläubigen Juden und Christen ist seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das Buch der Psalmen.
„Der Herr ist mein Hirte.“ Ps 23
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe.“ Ps 121
„Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe, zu Gott rufe ich und er erhört mich. In der Zeit meiner Not suche ich den Herrn; / meine Hand ist des Nachts ausgereckt und lässt nicht ab; denn meine Seele will sich nicht trösten lassen. Ich denke an Gott – und bin betrübt; ich sinne nach – und mein Herz ist in Ängsten. Meine Augen hältst du, dass sie wachen müssen. Ich bin so voll Unruhe, dass ich nicht reden kann.“ Ps 77
Da bringt jemand seine ganze Not vor Gott. Das Einzige, was ihn davon abhält, ganz stumm zu werden, zu verzweifeln, ist, dass er mit Gott reden kann. Und er bringt in diesem Gespräch mit Gott, das immer wieder auch zum Selbstgespräch wird, auch seinen Zweifel am Handeln Gottes zum Ausdruck. Wir erleben einen Menschen, der an Gotte irre zu werden droht:
Es sind die Geschichten, die dem Beter mitgegeben worden sind. Eingeschrieben in seinem Gedächtnis, gespeichert in seiner Seele, tauchen sie auf und verändern ihn.
Geschichten, die die Religion über Generationen hinweg tradiert und bewahrt hat:
Geschichten von Rettung, und Heilung. Geschichten von Angst und Verzweiflung und von Bewahrung.
„Ich denke an die Taten des HERRN“, sagt der Beter, „ja, ich denke an deine früheren Wunder und sinne über alle deine Werke und denke deinen Taten nach.“
Wer mit den Psalmen betet, liebe Gemeinde, dem geht das oft zu schnell. Im echten Leben brauchen wir manchmal ein ganzes Jahr und noch mehr Zeit dafür. Doch das Ziel steht uns hier in den Psalmen immer vor Augen: Irgendwann soll der Beter wieder Gott und das Leben loben können. Irgendwann soll er wieder Lobpsalmen singen können, die der Seele Sprache geben für etwas, was man nur als Lebensfreude pur bezeichnen kann:
„Ich will dem HERRN singen mein Leben lang und meinen Gott loben, solange ich bin (Ps 104). „Lobe den HERRN, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“
Wer zu Gott betet, weiß, dass er seine überschäumende Freude wie auch seinen
Kummer, seinen Schmerz, seine Verzweiflung vor Gott bringen kann. Er muss angesichts der Abgründigkeit von Hass und Gewalt nicht beschwörend und am Ende eben doch krampfhaft von Musik, Küssen, Leben und Freude reden, weil er gewiss ist und fest darauf vertraut, dass das finstere Tal keine Endstation ist, sondern der Weg sich wieder öffnen wird hin zum frischen Wasser und zur grünen Aue.
Und wer so fest gegründet ist in der Beziehung zu Gott, der kann vielleicht auch das tun, was von allem das Schwierigste ist: seiner eigenen Fehlbarkeit ins Auge sehen.
Das Beten hilft uns in die Ehrlichkeit mit uns selbst. Wie viele Konflikte könnten entschärft, wie viel Zwietracht zwischen Menschen könnte überwunden werden, wenn wir es nur schaffen würden, ehrlich gegenüber uns selbst zu sein, unsere eigenen dunklen Punkte, unsere Fehler, ja, mit den alten Worten gesagt: unsere Sünden zu erkennen und wirklich den Balken im eigenen Auge zu sehen anstatt den Splitter im Auge des anderen anzuprangern.
Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.
Wir vergessen so schnell, dass alle Menschen Gottes Kinder sind, geschaffen zu seinem Bild – in Paris, in München, in Tittling und Tiefenbach oder in Rammelsbach – alle unendlich kostbar.
Wir haben so lange weggeschaut, als in den Flüchtlingslagern des Nahen Ostens das Geld für die Nahrung ausging. Und jetzt haben es viele nicht mehr ausgehalten und sind hierher geflüchtet.
Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.
Auch wenn es manchem schwer fällt und Ängste hoch kommen und wir teilen müssen – Zeit und Geld, Liebe und Aufmerksamkeit, unsere Kultur und ihre Kultur.
Und ich bitte Gott, er möge uns Kraft geben, dass wir ihnen beistehen.
Uns davor bewahren, wieder wegzuschauen. Und wenn die Sorge überhand zu
nehmen droht, bitte ich um den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit!
Dass diese Bitten in Erfüllung gehen, das, liebe Gemeinde, erleben wir. Der Heilige Geist, der Tröster und Bewahrer der Schwachen, hat so viele Helferinnen und Helfer in unserem Land! Wir dürfen Gott loben für die Revolution der Empathie, die unser Land erlebt hat und noch immer erlebt.

Und wir dürfen Gott loben für das ,was in Paris binnen eines Monats Unglaubliches passiert ist:

Vom 13. November 2015 – diese unglaublichen Anschläge, die Europe in einen Schockzustand versetzt haben - bis hin zum 12. Dezember.