Oliver Weindel am 05. Mai 2013 in Tittling

 
 

Liebe Gemeinde,
„Von wem kommen eigentlich die Zehn Gebote?" (fragt in die Gemeinde!)
- „Von Jesus!"
Hätten Sie es gewusst? In einem Gottesdienst eines Kollegen kam diese Antwort ohne Zögern von einem Kind. Überhaupt gibt es da ja manchmal Antworten, mit denen man nicht so ohne weiteres gerechnet hätte. Zum Beispiel auf die Frage: „Was feiern wir eigentlich zu Ostern?" Da kommt es schon mal in der Schule vor, dass ein Kind mit größter Überzeugung hineinruft: „Da ist Jesus geboren worden."
Im ersten Moment denke ich: O je! Wofür mache ich das ganze hier eigentlich? Aber eigentlich ist diese Antwort gar nicht so schlecht. Zu Ostern ist doch schließlich ständig vom neuen Leben die Rede. Jesus ist das Leben geschenkt worden. Lange, bevor es das Weihnachtsfest gab, wurde schon Ostern gefeiert - als die Geburtsstunde des christlichen Glaubens. Und Jesus hat einmal gesagt: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen." Zu Ostern wurde Jesus neu geboren - Kindermund tut Wahrheit kund!
Dass die Zehn Gebote von Jesus kommen sollen, hat mir allerdings nicht so schnell eingeleuchtet.  Aber halten Sie sich das Vater unser doch einmal gedanklich vor Augen oder schlagen Sie das Gesangbuch auf Seite 1156 auf:
Besteht nicht das Vaterunser aus 10 Aussagen? Jesus hat bei seiner Bergpredigt geboten, dass mit diesen Worten gebetet werden soll. Auch die 10 Gebote wurden auf einem Berg empfangen und haben göttliche Würde. Die Idee, das Vaterunser als die  Zehn Gebote des Neuen Testaments zu verstehen, wird dann gar nicht mehr so abwegig!
Doch schauen wir uns das Vaterunser mal genauer an, das heute als Predigttext vorgesehen ist. Ich lese aus dem Matthäusevangelium im sechsten Kapitel:

7 Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. 
8 Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. 
9 Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. 
10 Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. 
11 Unser tägliches Brot gib uns heute. 
12 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. 
13 Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. 

Später wurde dann hinzugefügt: Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Beide beginnen mit Gott: die Zehn Gebote des Mose und das Gebet von Jesus. „Unser Vater im Himmel!" - „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." Beide Mal steht die Dankbarkeit gegenüber Gott am Anfang. Als Mose die Gebote auf dem Berg empfing, war er nicht lange zuvor mit seinem Volk aus Ägypten in die Freiheit gezogen. Sie hatten als rechtlose Migranten gelebt, die für ungeliebte Arbeiten schlecht bezahlt wurden. Gott hatte sich als verlässlicher Schutz erwiesen, auf den es sich zu vertrauen lohnt.
Bedeutet es nicht etwas Ähnliches, wenn wir Gott als unseren Vater anreden? Gott ist unser machtvoller Schutz. Wir verdanken uns ihm völlig, so wie sich ein Mensch seinen Eltern verdankt. Wir dürfen ihn vertrauensvoll anreden: hier als himmlischen Vater. Dieser Gott ist es, der keine anderen Götter neben sich duldet - so wie ein Mensch eben nur einen Vater hat, dem er sein Leben verdankt.
Und doch besteht ein großer Unterschied zwischen dem ersten Gebot und dem ersten von Jesus gebotenen Satz. Im Gebot heißt es: Du sollst keine anderen Götter haben. Im Vaterunser wird das nicht nur geboten, sondern es geschieht! Denn wer zu Gott „Vater" sagt und es von Herzen meint, erfüllt damit Gottes Willen. Wer „Vater unser" sagt, für den ist Gott tatsächlich der Einzige, dem er oder sie alles verdankt.
„Geheiligt werde dein Name" ist der zweite Satz des Vaterunser – dem steht im zweiten Gebot der Satz gegenüber „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen". Auch hier geht es im Grunde um dieselbe Sache. Einmal positiv formuliert, einmal negativ. Aber beide Male geht es um die Ehrfurcht vor Gott. Gott verdient Achtung, Respekt und Ehrfurcht. Diese Achtung entzieht man Gott nicht nur, wenn man seinen Namen zum Schimpfen und Fluchen missbraucht.
Man tut es auch dann, wenn man zum Beispiel unaufrichtig betet. Wenn man viele Worte macht und im Herzen doch nicht dabei ist. Wenn man sich als Beter vor anderen produziert. Oder wenn man sich mit Bitten an Gott wendet, die man eigentlich gar nicht guten Gewissens aussprechen kann. „Bitte, lieber Gott, zahl's meinem gemeinen Mitmenschen doch mal so richtig heim..." Das Vaterunser ist Jesu Antwort auf die Frage, wie wir beten sollen. Dazu gehört die Bitte: „Geheiligt werde dein Name." In aller Welt, aber eben auch durch mich.
Es ist verblüffend, wie recht das Kind gehabt hat. Wie sehr sich die Worte von Moses und Jesus ähneln. Vielleicht hat es ja damit zu tun, dass es beides Mal die Worte Gottes sind.
„Dein Reich komme." So heißt es weiter. Für mich ist das die Bitte, die alles einschließt, was nicht ausdrücklich zur Sprache kommt. Gott, ich bitte dich darum, dass meine Schmerzen endlich nachlassen. Gott, bitte lass Melanie endlich aus ihrer Traurigkeit herausfinden. Bitte gib, dass Amanda und ihre Familie ihre Ernte endlich zu gerechten Bedingungen verkaufen können. All das kann „Dein Reich komme" bedeuten.
Wäre das nicht ein großartiges Fest? Wenn endlich einmal Gerechtigkeit herrscht und das Leiden zum Ende kommt? Ein rauschendes Freudenfest Gottes! Ein himmlischer Feiertag. Du sollst den Feiertag heiligen - so lautet das dritte Gebot.

Zwischen dem dritten und dem vierten Gebot wechselt die Perspektive. Bis dahin war von der Welt Gottes die Rede: Dass wir uns neben dem einen Gott an keine anderen hängen sollen, dass sein Name nicht missbraucht und seine Feiertage geheiligt werden soll. Dann jedoch wendet sich der Blick auf unsere ganz menschliche Welt: auf die Eltern, die Eheleute; auf den Respekt vor dem Leben, vor der Wahrheit und vor dem Eigentum.
Auch im Vaterunser gibt es diesen Wechsel, und zwar zwischen der vierten und der fünften Aussage: Dein Wille geschehe, wie im Himmel - so auf Erden. Himmel und Erde. Beides gehört zusammen. Denn was nützt die himmlische Gerechtigkeit, wenn von ihr auf Erden nichts zu spüren ist? Und was nützen irdische Paradiese, wenn sie den Blick auf den Himmel verstellen?
Vielleicht ist dies die wichtigste Bitte. Mit so vielem kann ich mich an Gott wenden: mit meinen Wünschen und Ängsten. Ich darf im Gebet vor Gott bringen, was mich bewegt. Und ich darf auch sagen, was in meinen Augen das Beste wäre. Aber es ist wichtig, dass ich dabei meine Grenzen nicht vergesse. Jesus selbst hat es gesagt, als er in Gethsemane mit Gott gerungen hat: „Doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Das ist die Klammer, die jedes rechte Gebet umfasst. Für sie gilt, was vor dem Vaterunser steht: Euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.

Der nächste, der sechste Satz des Vaterunser hat zwei Seiten: „Unser tägliches Brot gib uns heute." Es meint einerseits natürlich: Bewahre uns vor dem Hunger. Gib uns, was wir zum Leben brauchen. Doch unter Berücksichtigung des Wortes „Heute“ bedeute es auch : Heute nur das, was wir für diesen Tag brauchen. Das Grübeln über die Zukunft macht nicht satt, sondern bringt nur Magengeschwüre, weil der Mensch ständig damit beschäftigt ist seine Zukunft zu sichern: Vom Tiefgekühlten über die Urlaubsbuchung am besten schon fürs nächste Jahr bis zur zusätzlichen privaten Rentenversicherung.
Haben nicht alle Gebote der zweiten Hälfte damit zu tun? Du sollst nicht begehren. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch reden. Bis zum: Du sollst nicht töten. Alles, was hier verboten wird, wurzelt in einer tiefen Unzufriedenheit. Ich glaube, wer zufrieden wäre mit dem täglich Nötigen, der würde all diese Gebote kaum brauchen.
Weil dies aber selten gelingt, bitten wir weiter: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."  Himmel und Erde. Da ist sie wieder die Kombination. Dass Gott im Himmel uns vergibt und dass wir Menschen auf Erden uns untereinander vergeben - beides gehört zusammen.
Das dürfte auch der missverständlichste Teil des Vaterunsers sein. Denn man könnte da folgende Bedingung raushören: Nur wer selbst vergibt, dem vergibt auch Gott. Oder: Gott vergibt in dem Maße, wie auch wir es tun. Denn es heißt doch: Vergib uns, wie auch wir vergeben. Aber wie soll das zur Anrede: „Vater unser" passen? Der, dem wir alles verdanken, soll uns nur vergeben können, wenn wir selbst vergeben? Wir sagen: „Dein Wille geschehe." Aber er soll nur geschehen, wenn wir eine Vorbedingung leisten?
Nein! Genau andersherum ist es: Gott ist ein Vater, der uns von Herzen liebt. Diese Liebe verändert einen Menschen. Verändert ihn so, dass er vergeben kann. Die Bitte des Vaterunser sagt: So, wie wir von deiner Liebe erfüllt sind und deshalb anderen Menschen vergeben können - so vergib auch du unsere Schuld.
Und damit es nicht immer nur bei der nachträglichen Bitte um die Vergebung bleibt, deshalb der Abschluss: Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Ach ja liebe Gemeinde, was doch so kindliche Gedanken für Folgen haben können. Sie veranlassen das Vaterunser unter einem anderen Blickwinkel zu sehen. Natürlich sind die Zehn Gebote verbunden mit dem Namen des Mose. Und sie bleiben es auch. Natürlich werden sie auch nicht aufgehoben durch das Vaterunser. Aber dieses Gebet rückt sie in ein anderes Licht.
Der Ton verändert sich. Denn Jesus sagt hier nicht „Du sollst" und „Du sollst nicht". Er fordert uns auf, dass wir uns vertrauensvoll und bittend an Gott wenden sollen. An unseren Vater, der weiß, wessen wir bedürfen, noch bevor wir ihn bitten.
Amen.

Kanzelsegen:
Und die Liebe Gottes und die Geduld unseres Herrn Jesus Christus, die höher sind als all unsere Vernunft. Sie mögen unsere Herzen und Sinne stärken und bewahren in Jesus Christus. Amen