Angela Güntner über I Joh 4, 16-21

Predigt über 1. Joh. 4, 16 b - 21 - Kreuzkirche Tittling

 
 

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich vor, es steht nur ein Buch im Regal, und jeder
liest es! Dieser verwegene Gedanke ist über mich gekommen,
während ich mich mit dem Predigttext beschäftigt habe.
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber ich persönlich liebe es, in Buchhandlungen herumzustöbern.
Was mir dabei in den letzten Jahren immer mehr auffällt, ist die schier unübersehbare Menge an Ratgeberliteratur, die sich dort in den Regalen zusammendrängt. Für jede Lebenssituation scheint es da mindestens ein schlaues Buch zu geben. Für jedes Problem, für jede Krise stehen da Lösungsmöglichkeiten und Auswege bereit. “Glücklich allein”, “Glücklich zu zweit”, “Glückliche Eltern”, “Glückliche Kinder”, “Glücklich im Beruf”, “Reich und glücklich” - so ungefähr lauten die Titel auf den bunten Umschlägen. Und für mich einzelnen kleinen Menschen ist angesichts dieser Überfülle guter Rat teuer.
Was wäre, wenn es ein einziges Buch gäbe, das all diese vollgestopften Regale ersetzen könnte? Ein Buch, das auf alle unsere Fragen eine Antwort geben und uns in allen unseren Nöten Hilfe leisten würde? Je länger ich über den Predigttext nachdachte, desto mehr kam mir die Bibel vor wie ein Universal-Problemlöser für alle Fälle.

Der Johannesbrief ist ja genau genommen auch Ratgeberliteratur, liebe Gemeinde. Er wendet sich an Christen, denen allmählich die Puste ausgeht. Eigentlich warten sie immer noch vertrauensvoll darauf, dass Jesus noch zu ihren Lebzeiten wiederkommt und einen neuen Himmel undeine neue Erde schafft. Andererseits beginnen sie gerade, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass es vielleicht doch nicht so schnell gehen wird mit der Wiederkunft Christi und dass sie sich wahrscheinlich noch eine ganze Weile in ihrem bisherigen Leben und in unserer unvollkommenen Welt werden einrichten müssen. Das schafft Unsicherheit. Das verwirrt. Und das veranlasst den Schreiber dieses Briefes, Anstöße zu geben für ein gottgewolltes Zusammenleben dieser Christen untereinander. Wie schaffen wir es, so glücklich und so problemfrei wie nur möglich miteinander zu leben? Darum ging es damals und darum geht es heute.
Unser Predigttext gibt darauf eine ganz einfache Antwort: die gute Botschaft von der Liebe Gottes.
“Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.”
Dieses Wort dürfte uns wohl bekannt sein, liebe Gemeinde. Es wird sehr gern als Trauspruch gewählt. Wir verbinden es gerne mit Hochzeiten, mit Festtagen, mit romantischer Liebe, mit zwei Leuten, die ihr Zusammenleben auf lauter rosaroten Wolken beginnen.
Um diese Art von Liebe, denke ich, geht es hier nicht, denn romantische Gefühle und überschwengliche Träume verfliegen im Alltagsleben nur zu schnell, das wissen wir alle. Wenn da nicht mehr dran ist an der Liebe, dann landen alle, die an sie glauben, unversehens vor dem Ratgeber-Regal und suchen Hilfe.

Mit Liebe ist in der Bibel nicht ein Gefühl gemeint, nicht das, was bei der Hochzeit inszeniert wird – eher das, was die alten Ehepaare schätzen: sich um den Anderen sorgen, für seinen Lebensunterhalt aufkommen, ihm etwas zu essen kochen; einander zuhören, merken, wenn dem anderen etwas fehlt, ihn pflegen, wenn er krank ist – bis dahin, mit ihm auszuhalten bis zum Schluss und sein Grab zu pflegen.
Liebe heißt im Neuen Testament immer, etwas für den Anderen zu tun, für Freunde und Nachbarn, für die Brüder und Schwestern in der Gemeinde oder für die Gesellschaft. Es heißt, die Nöte anderer Menschen zu sehen und sich dafür verantwortlich zu fühlen. Es heißt, dass es mich etwas angeht, wenn neben mir – oder auch weiter weg – Mangel herrscht. Liebe - das bedeutet für den Schreiber dieses Briefes: Handeln. Sich für andere verantwortlich fühlen und für andere da sein und ihnen nach besten Kräften helfen. Beispiele für diese Liebe gibt es in der Bibel viele - das Leben und Wirken Jesu ist wahrscheinlich das beste und größte. Das heutige Evangelium, die Geschichte vom armen Lazarus und dem reichen Mann, ist eine der ganz anschaulichen - und ganz schockierenden Beispielgeschichten, die Jesus selbst uns erzählt.
. Angesichts von Strafandrohung und Höllenfeuer höre ich unsere modernen, psychologisch korrekten Ratgeber förmlich aufschreien. Wenn du dein Soll an Nächstenliebe nicht erfüllst, dann wirst du bestraft, dann geht es dir schlecht. Welche Last, welcher Leistungsdruck wird da den Christen auferlegt! Welch zerstörerische Ansprüche, welche Überforderung! Wie schädlich und gefährlich ist es doch, sich danach zu richten!
Diesen Einwänden tritt der Johannesbrief hier ganz entschieden entgegen. Nein, sagt er. Halt. Ganz langsam. “Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus.” In der wirklichen Liebe, die zwischen Christen herrschen sollte, darf es keine Furcht geben. Es darf nicht die Vorstellung herrschen von einem unerbittlichen Gott, der die Menschen gnadenlos überfordert und im Versagensfall mit dem großen Strafgericht droht. Das ist nicht die gute Botschaft der Evangelien. Das ist nicht die Botschaft dieses Briefes. Angst ist in allen Lebenslagen eine schlechte Ratgeberin. Aber die Aufforderung zur Zuversicht, die hilft wirklich weiter.
Fürchte dich nicht. Trau dir etwas zu. Handle in Freiheit. Du brauchst keine Angst vor einem Strafgericht zu haben - das verkünden auch die schlauen bunten Bücher. Auch sie haben
letztlich keine andere Grundlage für gelingendes Leben zu bieten.

Und wie können wir kleine Menschen das schaffen? Nicht nur für uns, sondern auch für andere Verantwortung tragen und gut sorgen? Über uns hinauswachsen und gegen Ungerechtigkeit und Benachteiligung kämpfen? Mit den alltäglichen kleinen und großen Problemen fertigwerden - in der Partnerschaft, in der Familie, im Beruf? Auch darauf gibt uns unser Predigttext eine so einfache und klare wie allen psychologischen Grundsätzen standhaltende Antwort.
“Gott hat uns zuerst geliebt.” Weil wir geliebt werden, deshalb können und sollen wir auch lieben. Mit dieser Erkenntnis füllen die modernen Ratgeber Hunderte von Buchseiten. Wenn ich mich geliebt und angenommen fühle, dann habe ich auch Mut und Kraft genug, andere anzunehmen.
Sicher, liebe Gemeinde, das hört sich viel einfacher an, als es in Wirklichkeit ist. Wer mit dem Scheitern seiner Beziehung kämpft, wer nicht mehr an seine Kinder herankommt, wem der zermürbende Kleinkrieg mit schwierigen Kollegen über den Kopf wächst, der sagt wohl dazu: “Leichter gesagt als getan”. Der tut sich schwer damit, in seinen Mitmenschen - und in sich selbst - Gott und seine Liebe zu erkennen. Dem fällt es wahrhaftig leichter, zu sagen: “Ich liebe Gott”, den er nicht sieht - und mit dem er keine Alltagskämpfe austragen muss - als: “Ich liebe meine Brüder” - also Partner, Kinder, Eltern, Nachbarn oder Arbeitskollegen.
Wie also kann uns das gelingen: in der Liebe bleiben und in Gott?

Ich weiß nicht, welches Bild von Gott Sie haben, welche Seiten Gottes Ihnen zuerst einfallen, wenn Sie an ihn denken, was Ihnen an Gott am wichtigsten ist. Das ist sicher ganz unterschiedlich, je nachdem, wie Sie den Glauben gelernt und erlebt haben. Auch werden uns im Lauf eines Lebens immer wieder andere Seiten an Gott wichtig.
Die Bibel spricht von Gott in vielen Bildern: der Schöpfer, der Allmächtige, der Heilige, der starke Tröster …
Ich wünsche Ihnen, dass Sie Gott erleben als den, der sich uns in Liebe zuwendet. Denn wenn wir die Bibel, das Alte und das Neue Testament lesen, zeigt sich: alles, was Gott tut, geschieht aus Liebe – selbst die Strafen und das Gericht.
Manche Menschen können darauf in ihrem Innersten nicht vertrauen. Vielleicht, weil sie erlebt haben, dass Zuneigung und Liebe zu oft von Bedingungen abhängig gemacht wurden, durch Eltern oder auch durch den Partner. Oder dass ihnen gedroht wurde: Wenn du nicht tust, was ich von dir verlange, dann liebe ich dich nicht mehr, dann verlasse ich dich.
Manche Menschen meinen auch, sie müssten es sich erst verdienen, dass sie geliebt werden – von ihren Mitmenschen oder von Gott. Aber wir wissen es ja nun so viel besser: “Gott hat uns zuerst geliebt”. Diese Gewissheit, so denke ich, dieses Vertrauen und diese Zuversicht sind die besten Wege aus allen Krisen und Problemen unseres Lebens.

Träumen Sie mit mir den Büchertraum zu Ende, liebe Gemeinde. Stellen Sie sich bitte nochmals vor, auf dem Ratgeber-Regal in der Buchhandlung läge wirklich nur ein Buch ... und alle würden es lesen ... dann wäre so viel mehr Platz in der Buchhandlung für gemütliche Sitzecken, wo sich Leute treffen und miteinander über dieses Buch reden könnten, wo die Jungen den Alten etwas vorlesen könnten oder die Einsamen den Kindern ... dann wäre diese Buchhandlung kein Ort mehr für vergebliches Suchen und sinnloses Grübeln, sondern nur noch für liebevolles Handeln!
Amen.