Dr. Gereon Vogel am 21.03.2010
HIOB und Friedrick Rückert

 
 

Hiob ist bekannt aus einer Geschichte, in der ein Mann völlig unerfindlichen Gründen schreckliche Schicksalschläge hinnehmen musste und alles verlor - sein Vermögen und seine Familie. Sprichwörtlich ist der Ausdruck "Hiobsbotschaft" für die katastrophale Nachricht, wie sie Hiob eine nach der anderen erreichte. - Für das Hiobbuch ist dies aber nur die Rahmenhandlung. Bei weitem der größte Inhalt des biblischen Buches sind Gedichte über die Frage nach dem rätselhaften Grund für die Leiden des Menschen. In Dialogform sind sie gebracht als Gespräche Hiobs mit seinen Freunden: es geht ihnen darum, den Grund des menschlichen Unglücks zu klären.
Der Predigttext für heute steht im Buch Hiob, Kap. 2/3, und lautet:

Als die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort:
Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama.
Denn sie waren eins geworden hinzugehen, um ihn zu beklagen und zu trösten.
Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht richtig und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt
und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm;
denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.
Danach tat Hiob seinen Mund auf und verfluchte seinen Tag.
Und Hiob sprach:
Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin,
und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt!
Jener Tag soll finster sein und Gott droben frage nicht nach ihm! Kein Glanz soll über ihm scheinen!
Finsternis und Dunkel sollen ihn überwältigen
und düstere Wolken über ihm bleiben,
und Verfinsterung am Tage mache ihn schrecklich!

Liebe Gemeinde,
Ich könnte lange weiter lesen von den Klagen Hiobs, auf die dann die Freunde eine Antwort zu geben versuchen. Aber ich beende den Text hier, weil ich auf eine Tatsache hinweisen möchte, die man nicht leicht versteht: Das Buch Hiob ist ein Trostbuch. Nicht so sehr, weil Hiob am Schluss des Buches getröstet wird. Vielmehr insofern, als dieses Buch vielen Menschen ermöglicht hat, gut umzugehen mit Trauer und Trost. - Und wodurch wird das Buch Hiob ein Trostbuch? Was lehrt es über den Umgang mit schweren Lebensereignissen?

Das erste ist: Es wird ein Trostbuch durch den Hinweis auf Freunde. Freunde, die es eben auch in der Not gibt. Die nicht gerufen werden müssen, sondern die vielleicht unverhofft von selbst kommen. Sie wahrzunehmen, ist schon eine  Hilfe zum Trost.

Die Freunde weinen mit und über Hiob. Sie ertragen es, sieben Tage und sieben Nächte bei ihm zu sitzen, nichts zu reden. Das Leid braucht zuerst einmal Ruhe. Klage, Jammern und auch Trost brauchen Zeit, und kosten Kraft. Das Wort "Trauerarbeit" ist ein gutes Wort - denn das, was die Freunde tun, ist anstrengend.

Aber es ist nicht nur das Dasein der Freunde, und der schweigende Beistand, den sie leisten.

Was die Freunde und wohl auch Hiob dabei tun, steht im deutlichen Widerspruch zur Alltagsvernunft.
Normalerweise passt man darauf auf, dass die Kleider möglichst heil bleiben. - Sie aber zerreißen ihre Kleider.
Normalerweise passt man darauf auf, dass man nicht schmutzig wird. - Sie aber werfen Staub nach oben und auf ihren Kopf.
Natürlich trauert kein heutiger Mitteleuropäer so wie Hiob und seine Freunde. Was sie tun, sind Trauerriten, wie wir sie heutzutage nicht mehr kennen. Aber sie machen eine wichtige Tatsache deutlich, die man auch in der moderneren Welt zu respektieren hat:
Trauer ist nie ganz rational - in Maßen darf man unvernünftig sein und muss man das auch sein dürfen.

Nach sieben Tagen und sieben Nächten des Schweigens beginnt Hiobs Klage. Sie beginnt mit einem Fluch auf den Tag, an dem er geboren wurde. Das heißt, zur stummen Trauer am Anfang kommt dann auch noch eine schwer erträgliche Rede. Sie wird nicht zensiert. Hiob darf sich aussprechen und alles klagen.

Trösterchen werden bei meinen Kindern im Kindergarten die billigen Süßigkeiten genannt, die die Kleinen bekommen, wenn sie sich ein bisschen weh getan haben.
Vertröstungen nennt man bei Erwachsenen die billigen Sprüche, die Menschen auf ihren Lippen haben, wenn sie das lästige Leid eines Anderen von sich fern halten wollen.
Hiobs Freunde versuchen im Laufe des Hiobbuches immer wieder, die Trauer abzukürzen, indem sie es doch mit Vertröstungen versuchen. Aber Hiob lässt sich damit nicht abspeisen.

Die Klage Hiobs machen deutlich: Mit Trösterchen oder Vertröstungen kommt man bei diesem Leid nicht weiter. Mit jeder Faser seines Wesens sträubt der Mann sich gegen billige Vertröstung. Bei Hiob geht es nicht um einen Pseudo-Trost, sondern er braucht richtigen, kräftigen, echten Trost.

Und Trost bekommt er - auch wenn man das Happy End des Hiobbuches nicht kennt. Der Trost ergibt sich, indem Hiob und die Freunde reden und miteinander diskutieren. Das sind produktive Gespräche,  bzw. weil es sich eigentlich um eine Gedichtsammlung handelt, Produkte einer kreativen Bewältigung des Leids. Im Zulassen des Leides, im Sprechen über das Leid verliert das Leid seinen Stachel. Und dieser Trost hat sich auch auf so manchen Leser des Hiobbuches übertragen. Das ist die letzte wichtige Erkenntnis aus Hiob: Produktivität und Kreativität sind hilfreich, wenn man Leid zu bewältigen hat.

In vier Sätzen zusammengefasst die Erkenntnisse aus dem biblischen Umgang mit dem Leid:
Trauerarbeit ist Arbeit. Klage, Jammer und Trost brauchen Zeit. - Trauer ist nie ganz rational - in Maßen darf man auch unvernünftig sein. - Gut gemeinte Worte, die zu kurz greifen, sind gegebenenfalls als billige Vertröstungen zurückzuweisen. - Produktivität und Kreativität helfen dabei.

Wie bewähren sich nun diese uralten, schon im Alten Testament klar zum Ausdruck kommenden Umgangsregeln und -formen mit dem Leid?
Ich möchte das deutlich machen an einem evangelischen Christen des 19. Jahrhunderts, dem Orientalisten und Sprachwissenschaftler Friedrich Rückert. Er stammt gebürtig aus Schweinfurt und lebte 1788-1866.
Bis in die heutige Zeit ist Rückert bekannt als ein Sprachengenie. 44 Sprachen hat er im Laufe seines Lebens gelernt. Er war zunächst Professor für orientalische Sprachen und Literaturen in Erlangen. Zu der Zeit seines Lebens, von der ich erzählen möchte, war er stolzer Vater einer großen Kinderschar - zunächst hatte seine Frau fünf Söhne bekommen, dann kam als Krönung eine Tochter, die den Namen seiner Frau bekam: Luise.
Als Rückert genau so alt war wie ich es heute bin, kurz vor dem Jahreswechsel 1833, seine Tochter war damals so alt war wie heute mein jüngster Sohn, geschah das, wovon ich erzählen möchte. Kurz nach Weihnachten werden seine Kinder krank: Scharlach.
Kinder krank zu sehen, ist immer etwas, was Erwachsene traurig gestimmt hat. Man sitzt lange am Krankenbett, ohnmächtig, und die Sorgen werden immer größer. Nun versucht Rückert, mit dieser Not kreativ und produktiv umzugehen. Dazu folgende Erklärung: Es gibt Leute, die haben überall eine Kamera dabei, um die schönen Momente ihres Lebens festzuhalten. Heute schon am Handy. - Handies und Fotoapparate gibt es aber zu Rückerts Zeit noch nicht. Er hat es sich statt dessen in seinem Leben zur Angewohnheit gemacht, Zettel mitzunehmen in seiner Rocktasche. Er will das Glück seines Lebens nicht einfach vorüber zu lassen, und - sprachbegabt, wie er ist, verfasst er über die Momente, die er durchlebte, kleine Gedichte. 
Bei der Krankheit seiner Tochter fängt Rückert an, nicht nur Glücksmomente dichterisch aufzuzeichnen. Er schreibt auch über Belastendes, über seine Angst. So entsteht auf einem Zettel folgendes Gedicht:

Mein Engelchen, mein Engelchen,
Du willst gewiss entfliegen!
Gefällt dir's nicht bei uns? o sprich!
So ungeduldig seh' ich dich
Auf deinen Schwingen wiegen.
Mein Engelchen, mein Engelchen,
Du willst gewiss entschweben!
Du wirst ja schöner jeden Tag,
Es zittert meines Herzens Schlag,
Du wirst zu schön für's Leben.
Mein Engelchen, mein Engelchen,
Du willst gewiss entwallen!
Wirst jede Stunde lieber mir,
Ich fühl's mit Furcht, ich hab' an dir
Zu großes Wohlgefallen.

Eltern zu sein, bedeutet Ängste zu haben. Oft sind sie unberechtigt, manchmal aber auch berechtigt. So geschieht am Silvesternachmittag des Jahres 1833 das, von dem folgendes Gedicht erzählt:

Es bringt die Magd die Todeskunde
Vom Schwesterchen der Knabenschaar;
Da rufen sie mit Einem Munde:
Sie ist nicht todt, es ist nicht wahr.

Sie sehen sie mit blassem Munde
Mit weißer Wang' im dunklen Haar,
Und flüstern leiser in die Runde:
Sie ist nicht todt, es ist nicht wahr.

Der Vater weint aus Herzenswunde,
Die Mutter weint, sie nehmens wahr,
Und bleiben doch bei ihrem Grunde:
Sie ist nicht todt, es ist nicht wahr. (...)

Es ist nicht wahr? Leider ist es doch wahr! Da wird deutlich, was schon die scheinbar unsinnigen Riten in der Hiobgeschichte deutlich machen: Trauer ist nicht in einem einfachen Sinne vernünftig.

In der Trauer verkennt man einiges von der Wirklichkeit. Es tritt aber auch das Bewusstsein für eine andere Seite der Wirklichkeit vor Augen, die man im Alltag zum eigenen Schaden nicht wahr nehmen will.

Ich hatte dich lieb, mein Töchterlein!
Und nun ich dich habe begraben,
Mach' ich mir Vorwürf', ich hätte fein
Noch lieber dich können haben.

Ich habe dich lieber, viel lieber gehabt,
Als ich dirs mochte zeigen;
Zu selten mit Liebeszeichen begabt
Hat dich mein ernstes Schweigen.

Ich habe dich lieb gehabt, so lieb,
Auch wenn ich dich streng gescholten;
Was ich von Liebe dir schuldig blieb,
Sei zwiefach dir jetzt vergolten!

Zu oft verbarg sich hinter der Zucht
Die Vaterlieb' im Gemüthe;
Ich hatte schon im Auge die Frucht,
Anstatt mich zu freun an der Blüte.

Friedrich Rückert beginnt nun für sich eine Zettelsammlung aufzumachen, in denen er seine Gefühle und Gedanken niederschreibt. Es sind einfache Gedichte, ohne großen künstlerischen Anspruch, auch nicht zur Veröffentlichung im größeren Kreis bestimmt - wir kennen sie nur, weil sein Sohn sie Jahre nach Rückerts Tod als Buch herausgegeben hat. Es sind Gedichte der Klage, zum Teil enthalten sie Alltägliches wie z.B. eine kritische Sicht auf das, was die Ärzte taten und tun; oder wie belastend eine Beerdigung ist. Teilweise sind es Gebete an Gott, und enthalten tiefschürfende Gedanken. Manchmal sind es auch einfach Erinnerungen an eine schwere Zeit.
Und die Zeit wird für Rückert noch schwerer, als er wenige Tage nach dem Tod seiner Tochter miterleben muss, dass auch sein zweit jüngstes Kind stirbt.

Weihnachten frisch und gesund
Im frohen Geschwisterrund,
Am Neujahr mit blassem Mund,
An den drei Kön‘gen im Grund.
So taten die Feste sich kund
Mit Tod und Grab im Bund.
Mein Herz bleibt bis Ostern wund
Und wird nicht bis Pfingsten gesund.

Diese kleinen Augenblicksgedichte in der Trauer werden immer mehr. Die Sammlung umfasst über vierhundert von ihnen, die dann "Kindertodtenlieder" genannt werden. Im Ergebnis ist es eine Art Hiobbuch des 19. Jahrhunderts. Ein Schriftsteller und Historiker namens Hans Wollschläger hat dieses Buch "die größte Totenklage der Weltliteratur" genannt.
Wenn man sie durchgeht, merkt man ihnen an, wie Rückert sich mit jeder Faser seines Lebens gegen eine billige Vertröstungen sträubt.

Das sei mein Trost allein:
Untröstlich will ich seyn.

O sprecht nur Trost mir ein!
Ihr tröstet mich mitnichten;
Ich muß in meiner Pein
Auf jeden Trost verzichten.
Das sei mein Trost allein:
Untröstlich will ich seyn.

Untröstlich sein als Trost - das klingt widersinnig. Aber der Mensch in der Trauer ist eben nicht immer vernünftig und rational. Da gibt es die schiere Verzweiflung, aber da gibt es auch produktive Phantasie.

Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen,
Bald werden sie wieder nach Haus gelangen,
Der Tag ist schön, o sei nicht bang,
Sie machen nur einen weitern Gang.

Jawohl, sie sind nur ausgegangen,
Und werden jetzt nach Haus gelangen,
O sei nicht bang, der Tag ist schön,
Sie machen den Gang zu jenen Höhn.

Sie sind uns nur vorausgegangen,
Und werden nicht wieder nach Haus gelangen,
Wir holen sie ein auf jenen Höhn
Im Sonnenschein, der Tag ist schön.

Trauer braucht Zeit. Es dauert lange, bis Friedrich Rückert Trost erfährt. Erst langsam merkt man, wie seine Seele ruhiger wird.
Und er erfährt auch Trost dabei. Trost auch aus seinem Glauben. Es ist fast ein ganzes Jahr nach dem Tod seiner beiden jüngsten Kinder vergangen, da zeigen seine Gedichte, dass sich sein Geist vom Schmerz gelöst hat. Er schreibt zum Beispiel 1834 das Adventsgedicht: "Dein König kommt in niederen Hüllen", das vertont als Adventslied in unserem evangelischen Gesangbuch steht und gerade vom Unerwarteten Gottes erzählt.
Ein letztes Gedicht zeigt, wie beides - Leid und Glück und die Erinnerung an das vergangene Leben - nebeneinander stehen bleiben.

Du bist ein Schatten am Tage
Und in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.
Wo ich mein Zelt aufschlage,
Da wohnst du bei mir dicht;
Du bist mein Schatten am Tage
Und in der Nacht mein Licht.
Wo ich auch nach dir frage,
Find' ich von dir Bericht,
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.
Du bist ein Schatten am Tage,
Doch in der Nacht ein Licht;
Du lebst in meiner Klage
Und stirbst im Herzen nicht.