Augen und Ohren auf!

 

„Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide der Herr.“  Sprüche 20,12

 
Liebe Gemeinde !

„ Leben Sie schon oder wohnen Sie noch „ so oder ähnlich klang der Werbeslogan einer schwedischen großen Möbelfirma mit vier Buchstaben.
Witzbolde habend en Slogan verdreht und tiefsinnig gewitzelt:
„ Wohnen Sie schon oder schrauben sie noch ?“

Mit diesen beiden Slogans wird deutlich, dass wir Menschen immer noch etwas tun, um es „ dann“, später besser zu haben.

Der liebe Gott hat uns ausgestattet mit Augen , die (in der Regel) sehen können, mit Ohren, die (in der Regel hören) können und einem Verstand, der (in der Regel) gut denken und sortieren kann.

Der heutige Sonntag „Oculi“ (lat. „oculus“: das Auge) entstammt dem Psalm 25 Vers 15. „Meine Augen sehen stets auf den Herrn“.

Doch ich muss gestehen: Meine Augen sehen nicht stets auf den Herrn. Meine Augen schauen überall hin, nur nicht auf den Herrn.
Oft verrichten die Augen z. B. bei routinemäßigen Autofahrten ihren Dienst und meine Gedanken arbeiten – ich bin versunken in mir – und ich vermute , so ähnlich ist es dem einen oder anderem auch schon einmal ergangen.

Da denkst Du über die Vergangenheit nach, die Du sowieso nicht mehr ändern kannst –
Da träumst Du in die Zukunft, auf die Du doch keinen Einfluss hast.
Darüber bist Du in Gefahr, die Gegenwart zu vergessen, die JETZT Zeit, in der das eigentliche Leben stattfindet.

Und während wir immer noch auf das Leben warten und auf die intensiven Erlebnisse und ultimativen Kicks hoffen, die uns mit Wucht in den Augenblick und damit unser Leben katapultieren sollen, vollzieht sich dieses unser Leben von uns gänzlich unbemerkt Augenblick für Augenblick.

Virginia Woolf benannte diesen Zustand als die Zeiten des Nicht-Seins, denen sie die eigentlichen Momente des Seins gegenüberstellte. Ihr literarisches Schaffen galt der Suche nach diesen kostbaren Momenten, in denen sich unvermittelt der Schleier hebt, und wir uns nicht mehr getrennt von der Welt erleben, sondern eins werden mit ihr. Wir alle kennen diese Momente, die uns Einblicke in die Wirklichkeit des Lebens schenken und die Wunder der Schöpfung zu erkennen geben. Es sind diese Augenblicke, die sich aufgrund ihrer geradezu bestürzenden Intensität in unser Gedächtnis graben und fortan unsere Sehnsucht nach einem Leben in Verbundenheit bestimmen.

„Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide der Herr.“  Sprüche 20,12

Aber in der heutigen Zeit genügen ein hörendes Ohr und ein sehendes
Auge nicht mehr.
Nein, „multi- tasking“ ist gefragt – verschiedene Sachen gleichzeitig machen, z.B. telefonieren und kochen, autofahren und telefonieren, frühstücken, Zeitung lesen, Radio hören du sich ein bisschen nebenbei unterhalten.
Auch im Berufsleben sollst du am besten sollst du am besten superschnell, effizient und ohne Qualitätsverlust arbeiten.
Natürlich hat das Sprichwort „ Zeit ist Geld“ in unserer Gesellschaft seine Berechtigung, aber wo bleibt das wahrhaft hörende Ohr, das tief beobachtende und staunende Auge.
Führt vielleicht das zugestöpselte Ohr und das reizüberflutete Auge dazu, dass unser Leben oberflächlicher, schnelllebiger und zerrissener wird?
Können die Menschen, die bewusst das Wort Gottes hören wollen und staunend in der Schöpfung Gott entdecken wollen hier einen Gegenpunkt zum gesellschaftlichen life-style setzen ?
Lernen wir auch heute wieder mit einem Rabbi:

Ein Rabbi wurde von seinen Schülern gefragt, wie er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gelassen sein könne. Er antwortete: „Wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich gehe, dann gehe ich. Da sagten seine Schüler: „Das tun wir doch auch, aber was machst du darüber hinaus?" Er sagte wiederum: „Wenn ich sitze, dann sitze ich; wenn ich stehe, dann stehe ich; wenn ich gehe, dann gehe ich.“ Und wieder sagten seine Schüler: „Das tun wir doch auch." Der Rabbi antwortete: „Nein, denn wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon; wenn ihr steht, dann lauft ihr schon; wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel."

(In: Willigis Jäger: Ewige Weisheit. Kösel 2010)

Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Tanh ist seit vielen Jahren ein wahrhaft geduldiger Lehrmeister, der uns zerstreuten Westlern eine Vielzahl an praktischen Übungen zur Achtsamkeit an die Hand gibt. In seinem neuen Buch, Alles, was du für dein Glück tun kannst, stellte er eine große Auswahl dieser achtsamen Übungen für den Alltag zusammen, angefangen beim achtsamen Essen, Duschen, Kochen bis hin zum Telefonieren und Autofahren.
Das achtsame Essen würde aber auch heißen: Schluss mit Mc Drive – langsam und genussvoll essen, sich nicht hetzen lassen und mit Auge und Mund genießen.
Jawohl genießen – wenn wir genießen, dann leben wir das JETZT, dann müssen wir nicht gedanklich in Vergangenheit oder Zukunft fliehen.
Wenn ich genieße, dann bin ich wirklich anwesend in meinem Leben, dann lebe ich den gegenwärtigen Augenblick bewusst und intensiv.

„Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide der Herr.“  Sprüche 20,12

Zum Hören und Sehen, zum Riechen und Spüren brauche ich Zeit und innere Ruhe,
benötige ich jenen göttlichen Moment, dass ich die Welt lieben kann und die Welt mich liebt.

Mit Gedanken der Altersweisheit einer lebensklugen Frau möchte ich schließen:

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich mir erlauben, mehr Fehler zu machen. Ich würde mich entspannen, ich würde die Dinge lockerer angehen. Ich würde alberner sein als bei dieser Reise. Ich würde weniger Dinge ernst nehmen. Ich würde mehr Chancen ergreifen. Ich würde mehr Berge besteigen, öfter in Flüssen schwimmen und mehr Sonnenuntergänge anschauen. Ich würde mehr Eis und weniger Spinat essen. Vielleicht hätte ich dann mehr wirkliche Probleme, aber dafür weniger eingebildete.

Weißt du, ich bin jemand, die vernünftig lebt, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Oh ja, auch ich hatte meine Momente, und wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, würde ich dafür sorgen, dass ich mehr davon hätte. Genau genommen würde ich versuchen, nichts anderes zu haben. Einfach nur Augenblicke, einen nach dem anderen, anstatt ein Leben lang immer auf die Zukunft zu warten.

Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich im Frühling früher anfangen, barfuß zu gehen, und im Herbst würde ich später damit aufhören. Ich würde öfter tanzen gehen. Ich würde öfter Karussell fahren. Ich würde mehr Gänseblümchen pflücken. Wenn du dich andauernd nur schindest, vergisst Du sehr bald, dass es so wunderbare Dinge gibt, wie zum Beispiel einen Bach, der Geschichten erzählt und Vögel, die singen.

Nadine Stair, 85 Jahre alt, Louisville, Kentucky

(In: Linda Lehrhaupt / Petra Meibert: Stress bewältigen mit Achtsamkeit, Kösel 2010

Thomas Plesch, am 06.03.2010 unter Verwendung von Gedanken  von Christa Spannbauer
und ihrem neuen Aufsatz: „ Über die Notwenigkeit der Achtsamkeit in unserem Alltag.

Vita:
Christa Spannbauer, M.A.(phil), war bis Ende 2009 persönliche Assistentin des Zenmeisters Willigis Jäger. Seit 2010 lebt sie in Berlin und ist als freie Journalistin und Lektorin tätig. Sie ist Autorin des Buches Im Haus der Weisheit. : www.spuren-der-weisheit.de